Montag, 18. Juli 2011

Wohin mit dem Kind

Ich habe vor kurzem eine Diskussion von Bekannten verfolgt die ich gerne in aller Ruhe hier weiter diskutiert hätte, es geht um das emotional hoch aufgeladene Thema Kindererziehung. Die eine Streitparte, ein idealistischer linker Mensch, hielt es für eine gute Idee, falls sich kein anderer Platz fände, das gemeinsame Kind in Lobeda, genauer Neulobeda, einer typischen Plattenbausiedlung am Stadtrand von Jena, in den Kindergarten zu geben. Die andere Partei hingegen war von der Idee wenig angetan und führte wie folgt aus:

  1. In Lobeda wohnt ein im Vergleich zur Innenstadt erhöhter Anteil an Menschen die als "sozial schwach" einzustufen sind.
  2. Daraus ergibt sich, dass der Anteil der Kinder in Lobedaer Kindergärten mit ebensolchen Eltern entsprechend hoch bzw. höher als in der Innenstadt ist.
  3. "Sozial schwach" ist oft die Ursache von psychischen Störungen und wesensähnlichen, nicht pathologischen, Verhaltensauffälligkeiten oder Verhaltensdefiziten (hohe Aggresivität, wenig Kommunikationsbereitschaft, "assozial"), sowohl bei den Eltern als auch bei den Kinder.
  4. Diese, den Kindergartenstandort Lobeda auszeichnende Besonderheit, stellt eine Gefahr für das Wohl des gemeinsamen Kindes dar.
Argumentationsstrang zwei:

  1. Die Prävalenz in Lobeda für "Armut" und "Drogen" ist im innerstädtischen Vergleich erhöht.
  2. Armut und Drogen gilt als Risikofaktor für die Intelligenz
  3. Das allgemeine Niveau der frühkindlichen Bildung im Kindergarten ist dadurch niedriger.
  4. Kinder die wegen fehlenden Risikofaktoren in der Intelligenzverteilungskurve in höhere Quantile einzuordnen müssen aufgrund des niedrigeren Bildungsniveaus mit Nachteilen rechnen.


Daraus folgt für die zweite Streitpartei, dass es "nicht in die Tüte kommt", dass Kind in Lobeda in den Kindergarten zu schicken.
Mein Bauchgefühl sagt mir, dass das eine vorurteilsbelastete, sozialfaschistische Denkweise der zweiten Partei ist die ich ablehne. Ich sehe kein Problem darin das Kind in einem als sozialem Brennpunkt bekannten Stadtteil in den Kindergarten zu schicken. Ich halte die Grundlegenden Annahmen für vage, mehr oder fundierter kann ich jedoch auch nicht argumentieren. Hat da jemand mal 2cent?

Montag, 4. Juli 2011

Freie Fahrt für seriöse Statistiken!

Gemeinsam mit ca. 18,4 Mio. anderen* lese ich monatlich die ADAC Motorwelt. Das sind 22,5% der Bevölkerung. Es lesen also mehr Leser_innen die Motowelt als die BILD (12,5 Mio.); Spiegel, Stern und Focus zusammen vertreiben nur wenig mehr Abos (Σ=19,1 Mio.). Noch einfacher: mehr Personen als 2009 CDU oder FDP gewählt haben, lesen die ADAC Motorwelt - es sind jedoch nicht zwangsläufig die selben, ich, zum Beispiel, lese nur die ADAC Motorwelt. Das Begleitheft zur Clubmitgliedschaft kann also getrost als Zeitschrift mit extrem großem Einflussbereich bezeichnet werden.

Offensichtlich ist die Motorwelt auto(fahr)freundlich eingestellt, und getreu des Mottos „freie Fahrt für freie Bürger” ist die Juli-2011-Ausgabe dem Thema Stau gewidmet. Um zu verdeutlichen wie sehr die freie Fahrt behindert wird, findet sich auf Seite 24 in der Mitte eine Grafik, welche die starke Zunahme der Staus (gemessen an der Gesamtlänge der Staus eines Jahres)  verdeutlichen soll.

Originalgrafik aus ADAC Motorwelt Juli 2011, S. 241,2
Leider dramatisiert die Grafik die Situation und verfehlt komplett ihren Zweck. Anstatt komplexe Sachverhalte einfacher erfaßbar zu machen vermittelt sie das Bild einer drohenden Katastrophe.

Die Zahlen der Grafik als Tabelle, die Balkenlängen sind handgemessen, die restlichen Zahlen direkt übernommen.
Jahr   Balkenlänge    Staulänge     Maßstab
       [cm]           [1.000 km]    [cm/100.000km]
2002   11             321           3,4
2006   14,1           359           3,9
2010   17,6           400           4,4


Unterschiedliche Maßstäbe in einem Diagramm sind jedoch höchst verwirrden, deuten auf die Inkompetenz bei der Gestaltung, eventuell sogar mutwilliges Lügen3 hin. Bei einheitlicher Verwendung des Maßstabes 4,4cm/100.000km, der dem Verhältnis von Balkenlänge zu Staulänge im Jahr 2010 entspricht, wäre der 2002er Balken genau so lang, wie jetzt der Balken für das Jahr 2006. Im Handumdrehen sähe die Situations sicher immer noch unangenehm aus, jedoch nicht nach einem Verkehrsinfakt noch vor dem Atomausstieg (ob das wünschenswert ist, soll anderswo diskutiert werden).

Des Rätsels Lösung ist ein unsichtbarer Offset, also eine Verschiebung des Nullpunkts, so dass ein Balken mit der Länge 0 cm nicht der Staulänge 0 km entspricht. Das Verhältnis zwischen den Abständen der Staukilometer der einzelnen Jahre und den Abständen der Balkenlängen ist nämlich, im Rahmen der Messgenauigkeit, konstant. Die drei Balken müssten also alle jeweils 16 cm länger sein - mehr als der 2006er Balken in der Originalgrafik. Um wieder von Staukilometern zu sprechen, rund 190.000 km Stau. Warum die ADAC Motorwelt so viel Stau unterschlägt und gleichzeitig vor 80.000 km Stau zusätzlich in den letzten 8 Jahren erblasst, wird wohl auf ewig ein Geheimnis bleiben.

Ich glaube, dass der ADAC versucht durch die absichtliche Verzerrung der Realität  seinen immensen Einfluß auf die Politik, weiter auszubauen. Die Situation wird einem riesigen Empfänger_innenkreis drastischer dargstellt als sie ist und der ADAC weiß, wer dir mal aus bei einer Panne geholfen hat, dem vertraust du auch. Mit der Impatinenz eines Kindes am Süßwarenstand vor der Kasse fordert der Club seit Jahren (Jahrzehnten?), mehr Geld in Ausbau und Erneuerung der Straßen zu stecken. Ein umfassenderes Verkehrskonzept wird dabei ebenso wenig diskutiert wie die Frage welcher Haushaltsposten für die neuen Autobahnen bluten soll.

* Alle Zahlen, so nicht anders gekennzeichnet. aus Wikipedia
1 Die Faltspuren bezeugen meine erstes Erstaunen beim Lesen des Artikels. Ich faltete die Seite, um sicherzugehen, dass ich keiner optischen Täuschung zum Opfer fiel, bevor ich mein Lineal herausholte.
2 Sollten Sie, sehr geehrte Damen und Herren der ADAC Motorwelt, ein Problem mit der Verwendung der Grafik auf meinem Blog haben, bitte ich um eine Mail anstelle einer kostenpflichtigen Abmahnung.
3 So lügt man mit Statistik - Walter Krämer