Montag, 4. Juli 2011

Freie Fahrt für seriöse Statistiken!

Gemeinsam mit ca. 18,4 Mio. anderen* lese ich monatlich die ADAC Motorwelt. Das sind 22,5% der Bevölkerung. Es lesen also mehr Leser_innen die Motowelt als die BILD (12,5 Mio.); Spiegel, Stern und Focus zusammen vertreiben nur wenig mehr Abos (Σ=19,1 Mio.). Noch einfacher: mehr Personen als 2009 CDU oder FDP gewählt haben, lesen die ADAC Motorwelt - es sind jedoch nicht zwangsläufig die selben, ich, zum Beispiel, lese nur die ADAC Motorwelt. Das Begleitheft zur Clubmitgliedschaft kann also getrost als Zeitschrift mit extrem großem Einflussbereich bezeichnet werden.

Offensichtlich ist die Motorwelt auto(fahr)freundlich eingestellt, und getreu des Mottos „freie Fahrt für freie Bürger” ist die Juli-2011-Ausgabe dem Thema Stau gewidmet. Um zu verdeutlichen wie sehr die freie Fahrt behindert wird, findet sich auf Seite 24 in der Mitte eine Grafik, welche die starke Zunahme der Staus (gemessen an der Gesamtlänge der Staus eines Jahres)  verdeutlichen soll.

Originalgrafik aus ADAC Motorwelt Juli 2011, S. 241,2
Leider dramatisiert die Grafik die Situation und verfehlt komplett ihren Zweck. Anstatt komplexe Sachverhalte einfacher erfaßbar zu machen vermittelt sie das Bild einer drohenden Katastrophe.

Die Zahlen der Grafik als Tabelle, die Balkenlängen sind handgemessen, die restlichen Zahlen direkt übernommen.
Jahr   Balkenlänge    Staulänge     Maßstab
       [cm]           [1.000 km]    [cm/100.000km]
2002   11             321           3,4
2006   14,1           359           3,9
2010   17,6           400           4,4


Unterschiedliche Maßstäbe in einem Diagramm sind jedoch höchst verwirrden, deuten auf die Inkompetenz bei der Gestaltung, eventuell sogar mutwilliges Lügen3 hin. Bei einheitlicher Verwendung des Maßstabes 4,4cm/100.000km, der dem Verhältnis von Balkenlänge zu Staulänge im Jahr 2010 entspricht, wäre der 2002er Balken genau so lang, wie jetzt der Balken für das Jahr 2006. Im Handumdrehen sähe die Situations sicher immer noch unangenehm aus, jedoch nicht nach einem Verkehrsinfakt noch vor dem Atomausstieg (ob das wünschenswert ist, soll anderswo diskutiert werden).

Des Rätsels Lösung ist ein unsichtbarer Offset, also eine Verschiebung des Nullpunkts, so dass ein Balken mit der Länge 0 cm nicht der Staulänge 0 km entspricht. Das Verhältnis zwischen den Abständen der Staukilometer der einzelnen Jahre und den Abständen der Balkenlängen ist nämlich, im Rahmen der Messgenauigkeit, konstant. Die drei Balken müssten also alle jeweils 16 cm länger sein - mehr als der 2006er Balken in der Originalgrafik. Um wieder von Staukilometern zu sprechen, rund 190.000 km Stau. Warum die ADAC Motorwelt so viel Stau unterschlägt und gleichzeitig vor 80.000 km Stau zusätzlich in den letzten 8 Jahren erblasst, wird wohl auf ewig ein Geheimnis bleiben.

Ich glaube, dass der ADAC versucht durch die absichtliche Verzerrung der Realität  seinen immensen Einfluß auf die Politik, weiter auszubauen. Die Situation wird einem riesigen Empfänger_innenkreis drastischer dargstellt als sie ist und der ADAC weiß, wer dir mal aus bei einer Panne geholfen hat, dem vertraust du auch. Mit der Impatinenz eines Kindes am Süßwarenstand vor der Kasse fordert der Club seit Jahren (Jahrzehnten?), mehr Geld in Ausbau und Erneuerung der Straßen zu stecken. Ein umfassenderes Verkehrskonzept wird dabei ebenso wenig diskutiert wie die Frage welcher Haushaltsposten für die neuen Autobahnen bluten soll.

* Alle Zahlen, so nicht anders gekennzeichnet. aus Wikipedia
1 Die Faltspuren bezeugen meine erstes Erstaunen beim Lesen des Artikels. Ich faltete die Seite, um sicherzugehen, dass ich keiner optischen Täuschung zum Opfer fiel, bevor ich mein Lineal herausholte.
2 Sollten Sie, sehr geehrte Damen und Herren der ADAC Motorwelt, ein Problem mit der Verwendung der Grafik auf meinem Blog haben, bitte ich um eine Mail anstelle einer kostenpflichtigen Abmahnung.
3 So lügt man mit Statistik - Walter Krämer

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